Das kleine Stöcken wird wie von einer unsichtbaren Schnurr zu dem Strudel hingezogen. Nach einem kreiselnden Walzer um dessen Mittelpunkt beschleunigt es seine Zirkulation, um- schwups in dessen Zentrum verschluckt zu werden. Nach ein paar Sekunden taucht es unweit des Strudels wieder auf und der Zauber beginnt von vorne. Über der unheimlichen Wasserzentrifuge hängt ein weißes Schild mit einem schwarzen Totenkopf. Eine Warnung für leichtsinnige Schwimmer. Diese Todesmahnung schafft Beklemmung. Ein Kindheitserlebnis als mein Aktionsradius gerade mal bis zur Marien Klause an der Isar reichte.
Nun, etliche Jahre später erinnere ich mich an dieses Gefühl. Dieses angezogen werden in die Tiefe. Aufgesaugt von einem immer enger werdenden Schlund. Zu gerne hätte ich damals, wenn möglich eine Hand in das Wasserloch gesteckt um zu testen wie stark es zieht. Diesmal stehe ich nicht am Isarkanal sondern kurz unterhalb der Bergstation Pordoi in den italienischen Dolomiten. Auch jetzt fällt mein Blick hinab in einen Strudel. Einer Röhre aus Berg und Schnee.
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Wie ein Wasserwirbel umranden steile Felsen ein sich nach unten verjüngendes Tunnel, welches den Betrachter förmlich hinabzieht in dessen höllischen Schlund. Das Schild mit dem Totenschädel fehlt. Zumindest visuell. Ich aber habe es im Kopf. Vor kaum zehn Minuten genoss ich noch ahnungslos bei einem Capuccino im Restaurant der Bergstation die Aussicht. Bis ein paar Skifreunde aus Bayern zufällig auftauchten. „Wir haben gerade die Holzer Rinne gemacht und jetzt wollen wir die Pordoi Rinne befahren!“ meinte Hans lässig. Und: „Ja, die geht heute ohne abseilen!“ Über diese Aussage waren zumindest meine Begleiter hellauf begeistert. Da wir nämlich keine Kletterausrüstung mit uns führen, schminkten wir uns dies von vornherein ab. Jetzt aber sieht die Sache anders aus.
Im Nu war ich überredet mit zukommen. Jetzt stehe ich hier oben am Einstieg und zaudere: Vielleicht hätte ich doch gerne für die Schlüsselstelle ein Seil gehabt. Vielleicht haben die Vorgänger den Schnee soweit abgeschabt dass nun blankes Eis hervorguckt. Vielleicht fahre ich nicht gut genug. Ich bin zwar ein passabler Skifahrer, mache seit Jahren Touren, aber mit Rinnen und Couloirs habe ich kaum Erfahrung. Alleine der Name Holzer verbindet Extremes. Heini Holzer aus dem nahen Taufers war in den siebziger Jahren ein extremer Kletterer und Freund Reinhold Messners. Letzteren zog es bald in die fernen Berge des Himalajas. Er hätte den winzig kleinen Heini mit dem großen Herzen und den starken Nerven gerne mitgenommen. Diesen hielt es aber in den heimischen Alpen.
Nachdem dort aber alles schon erklettert und erobert war suchte der gelernte Kaminkehrer ein neues Betätigungsfeld. Schon öfter befuhr der Südtiroler steilste Wände und Rinnen mit den Skiern. Diese Spielwiese war in den Siebzigern weitgehend unbefleckt. Obwohl nicht karrieresüchtig erhoffte sich der 153 Zentimeter große Skialpinist sich damit einen Namen zu machen. Dies gelang ihm nicht nur durch die Benennung „Canale Holzer“ die er wie so viele andere Steilwände als Erster befuhr. Nicht in seinen Heimatbergen den Dolomiten, sondern am Piz Roseg im Engadin wurde er Opfer bei dem was er am meisten liebte. Am 7. Juli 1977 im Alter von zweiunddreißig Jahren verunglückte er aus unerklärbarer Ursache bei einer Erstbefahrung. Längst ist sein Name Legende und der Canale Holzer wohl die berühmteste Rinne der Alpen, welche inzwischen zahlreiche eingefleischte Brettlfans bezwangen.
Mittlerweile erreiche ich die Freunde, schwinge ab, und…. breche in ein Harschloch ein, was mich glatt zu Fall bringt. Sofort schnellen alle Augenpaare in meine Richtung. „Das fängt ja gut an!“ schäme ich mich. Immerhin schickt mich keiner zurück zur Bahn und ich erkunde die ersten Abfahrtsmeter. Der Schnee scheint griffig zu sein. Spiegelnde Eisflächen sind, zumindest von hier oben, nicht auszumachen und so steil wirkt es auch wieder nicht. Lange gibt es nichts zu überlegen, da Tobi schon startet. Ich erwarte mittelgroße Schwünge. Doch der exzellente Skifahrer schwingt relativ kurz. In hundertachtzig Grad Winkeln springt er im Skitango hinab. Etwa hundert Höhenmeter weiter unten bleibt er stehen und wartet auf den Nächsten. Bevor ich es mir anders überlege kippe ich die Skispitzen in die Vertikale. Jetzt bin ich das Stöckchen und es gibt kein zurück bis zum Ende des alpinen Strudels.
Mit kurzen Schwüngen und abwechselnden Rutschpartien versuche ich es Tobi einigermaßen gleich zu tun. Seltsam! So schwierig ist es eigentlich gar nicht. Oft fuhr ich diese Neigung von vierzig bis fünfzig Grad im alpinen Gelände sicher und schnell. Jedoch: fünfzig Höhenmeter sind nicht fünfhundert. Das ist der große Unterschied. Der Kopf fährt mit. Und da ist er wieder: der imaginäre Totenkopf, welcher grinsend auf mich schaut. „Du darfst halt nicht stürzen“, war der lapidare Kommentar von Hans. „Auch nicht ein kleiner Ausrutscher?“ „Nein!“ Dementsprechend verhalten sind meine Fahrkünste. Endlich erreiche ich Tobias und beruhige mich. Eigentlich waren die Verhältnisse besser wie drüben an der flacheren Pordoi Scharte. Bei jener rasanten Normalabfahrt verwandelte sich der Schnee in Folge Sonneneinstrahlung und zahlreicher Skifahrer in eine sulzige Buckelpiste. Haifischzähne in Form von einzelnen Felsen die durch den Schnee nach den Skibelägen bissen, würgten das Skierlebnis vollends ab. Den Schnee hier würde ich als kompakt und griffig bezeichnen. Etwas kälter und es wäre Pulver. Ideal!
Wir warten bis die anderen aufschließen. Hier auf einem kleinen Tableau lässt es sich gut stehen. Offenbar wurde ich als Rinnennovize entlarvt da Tobi sofort Skilehrerartig kund tut: „Franz, du fährst gleich nach mir und setze die Schwünge genau da wo ich sie mache!“ „Jetzt machst Du mich doch langsam nervös“, lüge ich, da ich das schon längst bin. Von diesem Standpunkt ist die Schlüsselstelle kaum einsehbar. Nichts hasse ich mehr als nicht zu wissen wie es weitergeht. Somit bin ich auf das schlimmste gefasst und merke wie mein Puls steigt. Das Stöckchen kommt ins Trudeln. Hier befindet sich bei schlechteren Verhältnissen die Abseilstelle.
Tobi springt über ein kleines Eisfeld in der Größe eines Esstisches. Kurz ist er nicht mehr sichtbar, taucht wenige Meter weiter unten wieder auf und bleibt sofort stehen um uns Instruktionen zu geben. Vorsichtig setze ich mich in Bewegung und bin gespannt wie der Hang nach der Eisfläche verläuft. Ich bin auf das Schlimmste gefasst. Zu meiner Erleichterung ist das Gefälle weiter wie gehabt. Die Felsen rücken zwar auf zehn Meter Abstand näher zusammen, doch das stört mich weniger. Eher die Wahl meiner Skier. In dem Bewusstsein eines normalen Pistentages wählte ich viel zu kurze Carver. Mit meinem relativ schweren Rucksack bekomme ich leicht Rücklage. Um dem vorzubeugen gibt man Druck auf die Skischaufeln. Bei den kurzen Latten kann dies aber schnell einen Stecker im Schnee verursachen. Das wäre mit ziemlicher Sicherheit ein tödliches Missgeschick. Schon vor einigen Jahren erlebte ich dies am Eggersgrinn am Zahmen Kaiser. Bei der 45 Grad steilen Schlüsselstelle passierte es.
Nach gut dreißig Meter purzeln und tomahawken kam ich im tiefen Sulz unverletzt zum Stillstand. Hier könnte ich dies nicht erhoffen. Daher springe ich nicht mit den Kurzskiern über das Eisfeld, sondern nähere mich diesem soweit es geht mit einem unsportlichen Spagat. Jetzt gilts! Zusammenreisen und ab. Schnell ist das Eis in Direktfahrt ohne Zwischenfälle überwunden und die Skier kommen gleich neben Tobi zum stehen. Ihm ist Erleichterung anzusehen, dass sein Schützling den Knackpunkt bestand. Den Rest packe ich auch noch. Denn desto weniger Höhenmetern unter den Schuhen warten, desto folgenloser wäre ein Sturz. Nun habe ich Muße die Landschaft zu genießen. Rinnenabfahrten erinnern an Canyoning. Nur auf gefrorenem Wasser eben. Ein für Skifahrer ungewohntes Szenario.
Unwirklich zwischen steilen Felsen eingeklemmt findet der Blick nur Ausschnittsweise ins Freie. Eine gewisse Dreidimensionalität wie sie sonst nur Kletterer erfahren. In weiter Ferne sonnige Felsen über welchen sich ein dunkelblauer Idealhimmel wölbt. Deren Wärme ist im schattigen Couloir nur zu erahnen. Es würde mich nicht wundern wenn Gandalf der Zauberer aus „Herr der Ringe“ mit seinem weißen Einhorn hinabsausen würde so bizarr ist das Umfeld. Doch es ist nur Roman, der letzte unserer kleinen Truppe. Zeit den Rest der Abfahrt in Angriff zu nehmen. Erleichterung! Mittlerweile finde ich auch meinen alten Rhythmus wieder als wäre es eine ganz normale Piste. Endlich erreiche ich das offene Tal und sofort packt mich die gleißende, wärmende Sonne. In Sicherheit. Das Stöckchen ist wieder an der Oberfläche.
INFO:
Canale Holzer oder Holzer Rinne. Am Piz Pordoi unweit der Sella Gruppe. Leicht mit der Gondel erreichbar ohne Auf- oder Abstieg. Von der Bergstation Abfahrt gegenüberliegend der Normalabfahrt in nordöstlicher Richtung. Insgesamt Höhenunterschied bis zum Tal ca. 700 Höhenmeter. Rinne selbst ca 500 Höhenmeter bei einem Gefälle von 40 bis 50 Grad. Etwa auf halber Höhe befindet sich die Schlüsselstelle. Normalerweise wird dort an einem zugefrorenen Wasserfall einige Meter abgeseilt. Bei viel Schnee mit einem beherzten Sprung ohne Seil möglich. Die Rinne endet im Val Lasties. Von dort flach bis zur Piste oder dem Sella Pass. Bei entsprechenden Schneeverhältnissen fast ganzjährig befahrbar.
copyright Franz Faltermaier