Japan

Das verlorene Paradies?

Während hierzulande ein lausiger Sommerwinter vor sich hinplätschert herrscht am anderen Ende der Welt Frau Holle. Aus Sibirien anrückende Kaltwinde reichern sich über dem japanischen Meer mit Feuchtigkeit an und schneien ihren kompletten Inhalt über dem japanischen Gebirge ab. Wir, Tom und Susi Schuster, Thomas Friedrich und ich wollten uns selbst davon überzeugen und machten uns auf den Weg ins Paradies. Damals, vor dem Desaster des 11.März 2011 als großes Unheil über das Land des Lächelns kam. Hier die Erlebnisse unserer kleinen Gruppe, als die Welt dort noch in Ordnung war.

Im vorbeigehen beobachte ich eine Gruppe japanischer Touristen. Die Köpfe in den Nacken gelegt, die Kameras schussbereit starren sie gespannt nach oben. Jetzt kommt Aufregung in ihre Gesichtszüge. Wortwechsel, sie reißen die Kameras nach oben zu den historischen Puppen die plötzlich zu tanzen beginnen. Dazu liebliche Glockenmusik. Jeden Tag gegen Mittag beginnt diese Zeremonie im Münchner Rathaus am Marienplatz. Kurz denke ich: in wenigen Wochen bin ich der Tourist und ihr die Einheimischen.

So ist es nun und diesmal stehe ich da und starre fassungslos nach oben. Ich befinde mich an der höchsten Bergstation des Niseko Grand Hirafu Skiressort. Von hier aus geht es nur noch zu Fuß weitere hundert Höhenmeter nach oben. Dort am Grad befindet sich das sogenannte Gate 4. Eins der Tore zum sogenannten „unkontrollierten Bereich“. Will  heißen: ohne Pistenpräparierung und Lawinenkontrolle. Doch was wir jetzt sehen verschlägt uns die Sprache. Hunderte Tiefschneefans trippeln bergan als befände sich dort der heilige Krall. Durch den langsam auflösenden Morgennebel erkennen wir schemenhaft, dass sich der menschliche Lindwurm bereits bis zum Gipfel vorgekämpft hat. Um zehn Uhr öffnete die Skipatrol die Absperrung. Wir sind nur eine Viertelstunde drüber. „Das hätte ich nicht gedacht“ meint Susi, „dass so viele hier Tiefschneeverrückt sind!“ Sicherlich besuchten damals die japanischen Touristen auch das berühmte Hofbräuhaus und tranken Bier.
[nggallery id=7] So ist es hier mit dem Pulverschnee. Jeder der hierher kommt sucht keine präparierten Pisten, sondern unberührtes Weiß. Uns vergeht fast die Lust uns einzureihen. Immerhin können wir dabei unsere Mitstreiter beäugen. Die meisten Japaner sind mit Snowboards bewaffnet. In der Zahl fast ebenbürtig Neuseeländer und Australier. Gewohnt in ihrer Heimat zu surfen sind sie ebenfalls mit Boards bestückt. Einige mit Slalomskiern, aber auch viele mit dicken Tiefschneelatten. Fast nur Letztere tragen einen Rucksack. Die ohne verzichten offensichtlich auf Lawinenausrüstung. Dabei sein ist wohl alles. Relativ viele Telemarker entdecken wir. Tom kommt mit einem ins Gespräch: „Oho, you big skies, oho!“ spricht dieser ihn beim hoch stapfen in schlechtem Englisch an. „Yours too!“ antwortet Tom lachend. „I am local!“ ergänzt der Japaner stolz. „So, you´re a lucky man!“ lobt Tom, welches von dem üblichen oho, oho seitens des Einheimischen bekräftigt wird. Ob er begreift was Tom mit Glücklich meint? Dass hier so viel Schnee fällt, während es bei uns alle heiligen Zeiten homöopathische Dosierungen tröpfelt, welche dann von durchziehenden Föhnkatastrophen eliminiert werden.
Am Grad angekommen heißt es sich beeilen bevor alles hoffnungslos verspurt wird. Dann wäre der Gänsemarsch umsonst. Herrlich! Direkt auf den markanten Vulkanberg Yotei zusteuernd, können wir unseren Skiern endlich die Sporen geben. Am Tag zuvor wühlten wir uns noch bei starken Schneefällen im Nebel durch lichte Birkenwälder. Nun tut es gut Kurven jenseits von zwanzig Meter Radien zu ziehen.

Nach dem in Niseko obligatorischen Nachtskilauf unter Flutlicht, finden wir uns wieder ein in unserer gemütlichen „Chill Lodge“. Diese wird von dem Australier Rob geleitet. Gerade zur rechten Zeit da sich das schöne Wetter längst verabschiedet hat und dichter Schneefall dominiert. Der freundliche Gastgeber empfiehlt uns einen Guide, während er fast zeitgleich dessen Telefonnummer wählt. Am nächsten Morgen  haben wir noch nicht fertig gefrühstückt da steht Chris vor uns. Er kennt jeden Fleck und will uns möglichst viel davon zeigen. Der gebürtige Australier lebt mit seiner Familie seit zwanzig Jahren auf der Insel, spricht perfekt Japanisch und sieht auch schon irgendwie so aus.

Er will uns das einsamere Rusutsu Skigebiet zeigen. In seinem Allradvan fährt er in einem Affenzahn über schneebedeckte Fahrbahnen. Teilweise sind Verkehrsschilder so stark zugeschneit, dass sie freigeschaufelt wurden. Straßenränder säumen aufgeschobene Schneeberge, Laternen und Bäume tragen Schneehauben wie riesige Kochmützen. Auf meine Frage wie diese sich so stabil halten, ob das von der salzhaltigen Luft in Ozeannähe kommt, antwortet der Fünfundvierzigjährige cool: „Hier schneit es halt recht stark.“ Ach!?
Rusutsu gefällt uns auf Anhieb. Was natürlich auch daran liegt dass es in dem abgelegenem Gebiet weniger Wintersportler und somit auch Offpist Enthusiasten gibt.

Wie auf Watte schweben wir zwischen Birkenbäumen ins Tal als wäre die Schwerkraft aufgehoben. Sprünge von Buckeln fühlen sich an wie eine gelebte Zeitlupenaufnahme. Dazu die dämpfende Stimmung stetigen Schneefalls, welcher bisweilen von tapferen Sonnenstrahlen flirrend erleuchtet werden. Zarter Feengesang wabbert weich über die Hänge, als wolle es zu verwunschenen Hängen locken. Die Ernüchterung kommt, als das uns unverständliche Japanisch von dem sanften Frauensingsang ins Englisch übersetzt wird: „Skispitzen anheben und den Bügel öffnen, den Lift verlassen!“ Die Japaner sind Sicherheitsfanatiker. Jedem Fahrgast wird beim Ein- und Ausstieg der Aufstiegshilfe Unterstützung von lächelndem Personal und der Lautsprecherfee gegeben. In Japan gibt es viel Dienstleistung dieser Art. Für den Bau neuerer, modernerer Lifte haben sie offenbar weniger Personal. Diese wirken recht einfach und veraltet. Uns stört das wenig. Lieber einen Haufen Schnee, als Bubble und Sitzheizung. Immerhin könnten sie die Skihalter vergrößern. Selbst Snowboarder müssen ihre Geräte in die Kabine mitnehmen. Ganz zu schweigen von den dicken Latten. Somit können nur zwei, drei Personen in einer Achtergondel mitfahren. Es ist nämlich so: Für die Winterolympiade in Saporro 1972 entstanden viele Skigebiete in der Region. Dann kam eine Wirtschaftskrise. Zudem das Problem, dass bei den üppigen Schneemassen die Skifahrer mit ihren dünnen Brettern versanken. Damals!

Für die Snowboarder war dies um die neunziger Jahre kein Problem mehr. Somit halfen sie den darbenden Wintersportorten unter die Arme. Jetzt, nachdem Tiefschnee bei Skifahrern boomt erwacht der Fremdenverkehr endgültig aus seinem Dornröschenschlaf.  Zudem wurde in Australien und Neuseeland die Werbetrommel gerührt, weshalb die meisten Westlichen aus diesen Ländern kommen. Auch China mischt fleißig mit. Europäer haben wir äußerst selten getroffen. Nicht mal die sonst nie fehlenden Landsleute.

Für den nächsten Tag haben wir uns eine Alternative zum normalen Pistentag gewünscht. Schon hat Chris eine Landkarte parat. Eigentlich wollten wir eine Skitour auf den Yotei mit 1898 Metern Höhe machen. Der markante Vulkankegel beherrscht das Tal fast wie das Matterhorn Zermatt. Jedoch, fünf Stunden Aufstiegszeit mit unserer schweren Freeride Ausrüstung ist uns zu lang. Lift gibt es keinen. Was sonst? Chisenupuri, ein winziges Skigebiet mit nur einem Sessellift schlägt uns der Australier vor. Etwa eine halbe Autostunde von Niseko entfernt. Kostet 3500 Yen die Tageskarte. Umgerechnet dreißig Euro. Dabei enthalten: ein Mittagsmenü und der Besuch eines Onsen. Dem traditionellen heißen Bad in Vulkanwasser. Chris empfiehlt den Lift als Aufstiegshilfe für eine kleinere Tour auf einen der nahen Gipfel. Als Sparfüchse gefällt uns dieser Vorschlag außerordentlich. Schon nach einer halben Stunde Steigen erreichen wir den Gipfel. Genau dann als dieser von einer dichten Wolkenmasse umhüllt wird. Dabei war es eben noch sonnig. Schon setzt wieder mal dichter Schneefall ein. Mit angezogener Handbremse fahren wir ab, tummeln uns ein wenig im Skigebiet bis uns beißender Wind ins Onsen treibt.

Chris, welcher anderntags auf einer Autofahrt zum Meer nicht müde wird zu erzählen schwärmt: „Letztes Jahr maß ich täglich die gefallene Schneemenge, addierte diese am Ende der Saison und erhielt dabei den Wert von siebzehn Metern und achtzig Zentimetern. Gemessen auf meiner Veranda! Am Berg bedeutet das eine durchschnittliche Höhe von zwei bis vier Metern!“ Tatsächlich können wir kurz darauf selbst auf Meereshöhe noch hüfttief bis zur Brandung schwingen.

Auch die schönsten Tage sind mal vorbei. Doch es gibt noch ein Schmankerl. Wir wechseln nach Hakuba nahe Nagano. 1998 ein Olympia Ort. Dort fällt uns sofort der alpine Charakter auf. Steile Flanken angezuckert mit frischem Neuschnee umrahmen den Wintersportort. Zufrieden stellen wir fest: Hakuba kann mit Niseko locker mithalten. Das Dörfchen macht im Vergleich einen fast verschlafenen Eindruck. Währen da nicht die vielen verrückten einheimischen Wintersportler. Diese verwandeln die flache Piste vor der Talstation zu einem Catwalk. Mit ihren knallig bunten Klamotten versuchen vor allem die Snowboarder möglichst viele Pirouetten zu drehen. Es gibt dort  Luftdruck Kompressoren. Mit diesen kann man sein Sportgerät von Schnee befreien. Haha! Wenn´s schön macht!

Erfreulicherweise haben wir am letzten Tag Glück. Ein blauer Idealhimmel spannt sich über das japanische Gebirge. Hier sind die Regeln bezüglich des Abseits fahren etwas anders als in Niseko. Wenn man eine Lawine auslöst, dann rollt sie über die Piste. Ergo: im Skigebiet kein offpist! Die Lösung: Oberhalb der Bergstation erst mal durchs Gate weg hiken. Auf beiden Seiten umrahmen erlaubte Skirouten das kommerzielle Areal. Es lassen sich so mit Lifthilfe kleine Skitouren mit viel Abfahrts Höhenmetern verwirklichen. Diese sind gigantisch. Durch offen stehende Laubwälder, enge Couloirs und am Schluss an einem Bachbett entlang erreichen wir wieder die Talstation. Mit etwas Glück sieht man japanische Hirsche. Man ist dort auch eher alleine als in Niseko.

Wäre da nicht eine Snowboarder Filmcrew. Wir konkurrieren mit diesen um einen tollen Pillowrun. Das sind hochschwangere Schneekissen welche man nacheinander abreiten kann. Während die Filmer mit ihren Boards unter dem Arm mühsam im Tiefschnee versinken spuren Thomas und Tom auf Skiern mühelos vorbei. Ich warte am gegenüberliegenden Hang um sie zu fotografieren. Schnell sind die Freunde am Startpunkt. Vier bauschige Schneekugeln kleben wie riesige Trauben am Hang. Herrlich, vom himmlischen Zuckerbäcker üppig modelliert. Bis zu mir höre ich die verzweifelten Filmer: „Hei, hei. No, Stopp!“ Verständlich. Jetzt nach geglückter Abfahrt der beiden sehen die Ballons aus wie das alte Kopfkissen meiner Großmutter. Aber was hilft es? Heute ist unser letzter Tag und dieses Foto ist genau das was wir noch suchten. Die Japaner haben stets Traumwinter, während daheim Tauwetter und Regen auf uns wartet.

Nachwort:

Beim Rückflug erfand Tom ein Zitat: „Es gibt ein vor- und ein nach Japan.“ Er meinte zu diesem Zeitpunkt die traumhaften Schneeverhältnisse der Insel. Dass sich dieser Satz keine drei Wochen später in eine bittere Ironie verwandelt, konnte er nicht ahnen.  Angefangen mit dem Erdbeben, dem darauffolgenden Zunami und der alles überragenden Katastrophe des Reaktorunglücks erinnert er an den Atomschocker „Der Tag danach“.

Wir haben die Japaner als extrem korrektes, ordnungsliebendes Volk kennen gelernt. Wenig Kriminalität, Zurückhaltung. Auf gar keinen Fall ihre Mitmenschen belästigen oder gar zur Last fallen. Selbst in der Millionenmetropole fällt eine weggeworfene Zigarettenkippe auf. Kein drängeln. Weder in den U-Bahnen noch an den Liftanlagen. Selbst an kleinen Baustellen auf einsamen Landstraßen sind gut vier Arbeitskräfte zuständig den Verkehr zu kontrollieren und Unfälle zu vermeiden. Alles muss so laufen wie es sein soll. Ausgerechnet über dieses Volk kam das totale Chaos. Von den Folgen des Erdbebens werden sie sich dank ihres Fleißes erholen. Von den Folgen des Atomunglücks wohl nicht.

 

 

 

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